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Anna Zens

Selbstbewusst und frei: Die ikonische Frau der 1920er

Zu Lotte B. Prechners „Jazztänzerin“

Zur Zeit der Weimarer Republik gehörte Lotte B. Prechner zu den bekanntesten Künstlerinnen des Rheinlandes; sie war in der Kunstszene gut vernetzt und nahm an großen Gruppenausstellungen teil. Im Zuge der Kulturpolitik der Nationalsozialisten unterlag sie als Jüdin jedoch ab 1933 einem Mal- und Ausstellungsverbot, emigrierte 1937/38 nach Belgien und entschied sich auch nach Ende des Zweiten Weltkriegs gegen eine Rückkehr nach Deutschland. Mit ihrer Tochter lebte sie in Brüssel und in Portici bei Neapel, wo sie 1967 starb. Ein Großteil von Prechners Nachlass gelangte in den 1970er Jahren über eine Schenkung in die Sammlung des LVR-LandesMuseums Bonn. In den Jahrzehnten nach ihrem Exil hatte Prechners Œuvre zunächst kaum Beachtung gefunden und wurde erst Ende der 1990er Jahre ‚wiederentdeckt‘ – in einer Kooperation des August Macke Hauses mit dem Landesmuseum entstand eine Ausstellung und eine umfassende Monographie mit Werkverzeichnis.[1]

Leben und Werk Prechners

Prechner wurde 1877 in Ueckermünde in Pommern geboren und ist zunächst in Berlin aufgewachsen. Nach Jahren der künstlerischen Ausbildung in München und Paris ließ sie sich 1907 in Köln nieder. Während des Ersten Weltkriegs war sie „als einzige von der obersten Heeresleitung vorgelassene Kriegsmalerin“[2] in Belgien an der Front aktiv und wurde durch die Eindrücke der Kriegsgeschehnisse stark beeinflusst. Nach dem Ersten Weltkrieg beschäftigte sie sich zunehmend mit sozialkritischen Themen und der Darstellung menschlichen Elends.

Die Grafik zeigt frontal eine Gruppe streikender Männer, von denen einer ein Schild hochhält.

Lotte Prechner: Streik II, um 1920, Linolschnitt
© LVR-LandesMuseum Bonn, Foto: J. Vogel
Der Holzschnitt zeigt eine sitzende Frau, die von zwei Kindern flankiert wird. Im Hintergrund ist ein Feuer zu erkennen.
Lotte Prechner: Heimatlos (Mutter mit Kindern), 1920, Holzschnitt
© LVR-LandesMuseum Bonn, Foto: J. Vogel

Mit Zeichnungen, Radierungen, vor allem aber Holz- und Linolschnitten nahm Prechner an überregionalen Ausstellungen teil und verfolgte ehrgeizig ihre Ambitionen als freischaffende Künstlerin – gegen gängige gesellschaftliche Konventionen. Sie war Mitglied der 1919 in Düsseldorf gegründeten Künstler:innengruppe „Das Junge Rheinland“ und eine der wenigen Künstlerinnen, die regelmäßig an deren Ausstellungen teilnahm. Die heterogene Vereinigung von rheinischen Künstler:innen grenzte sich von der konservativen Kunstszene ab und vertrat hauptsächlich Strömungen des Expressionismus und der Moderne. Zwei der heute bekanntesten Mitglieder der Gruppe sind Max Ernst und Otto Dix, letzterer hat im Jahre 1924 ein Aquarell-Portrait Lotte Prechners angefertigt.

1920er: gesellschaftliche Zerreißproben und politische Brisanz

In den 1920er Jahren unternahm Prechner zahlreiche Studienreisen in die Kunstzentren Europas und lebte ein Jahr in Paris. Sie widmete sich verstärkt der Malerei und Bildhauerei und schuf Werke, die der Neuen Sachlichkeit zugeordnet werden können. 1928 entstand das Gemälde „Epoche“, das 1929 bei der Großen Berliner Kunstausstellung zu sehen war, dort viel Aufmerksamkeit erregte und auch heute noch zu ihren bekanntesten Werken gehört. Protagonist der Komposition ist ein elegant gekleideter Mann – ein Intellektueller und Belesener, wie der Stapel Bücher neben ihm andeutet. Mit Sorge blickt er auf die gesellschaftlichen Entwicklungen in Europa, die im Bildhintergrund durch Symbole und Schriftzüge dargestellt sind, die als Aufschriften einer aus der Presse kommenden langen Zeitungsbahn zu lesen sind, dem neuen aktuellen Medium.

Das Gemälde Epoche von Lotte Prechner.
Lotte Prechner: Epoche, 1928, Öl auf Leinwand, © Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung

Die Rolle des aufmerksamen, aufgeklärten Beobachters besetzt Prechner mit einem Schwarzen – für die 1920er eine eher ungewöhnliche Entscheidung. Sie zeigt eine moderne Welt, die sich in eine beängstigende Richtung entwickelt.

„Die Jazztänzerin“ – die (weibliche) Kultur der Moderne

Eine moderne Welt zeigt Prechner auch in dem 1929 entstandenen Gemälde „Die Jazztänzerin“. Erst ab 1922 wurden Jazz-Schallplatten aus den USA nach Deutschland importiert und kurz darauf landesweit im Radio gespielt. Der Jazz war im Deutschland der 1920er Jahre eine Modeerscheinung, die sich schnell großer Beliebtheit erfreute und schon bald als eigene Kunstform mit großer gesellschaftlicher Wirkung zelebriert wurde – nicht nur in der Metropole Berlin.

Das Gemälde zeigt eine androgyn gekleidete Frau, die vor Musikinstrumenten tanzt.
Lotte Prechner: Jazztänzerin, 1929, Öl auf Leinwand, © LVR-LandesMuseum Bonn, Foto: J. Vogel


Prechners Gemälde gelingt es, die besondere bewegte Rhythmik des Jazz ins Bildhafte zu übersetzen. Das scheinbar chaotische Zusammenspiel der in Goldtönen gehaltenen Musikinstrumente bildet den belebten Hintergrund für die Jazztänzerin, die sich mit ihrer Kleidung in schwarz und grau optisch absetzt. Anders als in Otto Dix‘ berühmtem Tryptichon „Großstadt“ von 1928, in dem die Frauenfiguren geradezu grotesk und übermäßig erotisiert als Teil der großstädtischen Repräsentationsscharade dargestellt werden, ist die von Prechner gezeigte weibliche Figur mit geschlossenen Augen auf sich selbst fokussiert. In ihrer androgynen Aufmachung repräsentiert sie den Typus der ‚Neuen Frau‘: Mit kurzem Haar, im Anzug und mit Zylinder bewegt sie sich selbstbewusst über die angedeutete Bühne, ohne sich für ein Publikum zu interessieren.

Das Erscheinungsbild der Tänzerin ist Ausdruck einer Emanzipation, die viele junge Frauen in der Weimarer Republik für sich beanspruchen. Immer mehr von ihnen sind erwerbstätig, verfügen über eigenes Geld und streben nach der Erfüllung ihrer eigenen Bedürfnisse und nach Unabhängigkeit. Junge Künstlerinnen, Akademikerinnen, Schriftstellerinnen und Tänzerinnen sind die Protagonistinnen – und die Ikonen – dieser Bewegung, die ein neues weibliches Selbstverständnis in der Alltagskultur sichtbar macht.

Prechners Gemälde steht im deutlichen Kontrast zu ihren früheren Arbeiten. Die farbenfrohe Leinwand mit dynamischem Sujet hat mit ihren sozialkritischen Druckgrafiken aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg nur wenig gemein. Die Darstellung der selbstbewussten Garçonne bildet einen Gegensatz zu den zahlreichen Arbeiten, die Frauen hauptsächlich im Kontext sozialer Missstände und ärmlicher Verhältnisse oder als besorgte Mütter und kränkliche Alte zeigen.

Prechners „Jazztänzerin“ in der neuen Sammlungspräsentation

In der im September 2023 eröffneten neuen Sammlungspräsentation des LVR-LandesMuseums Bonn entfaltet sich die Wirkung der „Jazztänzerin“ durch die Kontextualisierung. Neben Barthel Gilles‘ Gemälde „Asphaltarbeiter“, auf dem die dargestellten Männer kraftvoll ihre Werkzeuge schwingen, und – je nach Position – auf einer Blickachse mit Franz Wilhelm Seiwerts „Stehender mit Schwert“, der Tonskulptur eines Mannes, der mit kampfschreiend aufgerissenem Mund zum Schwerthieb ausholt, wirkt Prechners Jazztänzerin vor allem: lebendig, lässig und erfüllt von konzentrierter Leichtigkeit.

Ein Foto der Sammlungspräsentation im Landesmuseum mit den genannten zwei Gemälden und der Skulptur.
Ausstellungsansicht WELT IM WANDEL, © LVR-LandesMuseum Bonn, Foto: Anna Zens

Das Gemälde ist nicht weniger dynamisch als die flankierenden Männerdarstellungen, wohl aber farben- und lebensfroher, hervorgerufen durch den pulsierend erscheinenden Hintergrund musikalischer Instrumente und eine Frau, die diesen Rhythmus im wahrsten Sinne ‚verkörpert‘. In dieser Konstellation kommen die Gegensätze der Zeit zum Ausdruck: das Freiheitsversprechen der modernen Kultur, die fortdauernde kriegerische Aggressivität und die sich zuspitzende Wirtschaftskrise zwischen industrieller Stagnation und Ausbeutung.

„Die Jazztänzerin“ ist zweifellos ein Highlight in der Moderne-Abteilung der neuen Sammlungspräsentation des Landesmuseums, und sie ist eines der wenigen Werke Prechners, die seit ihrem Tod auch überregional ausgestellt wurde. Das in seiner Qualität beeindruckende und in seinen Techniken und Sujets vielfältige Œuvre der Künstlerin, das sich zum Großteil im Depot des Landesmuseums befindet, umfasst zahlreiche weitere Objekte, die eine nähere Untersuchung, kunsthistorische Einordnung und Präsentation für die Öffentlichkeit verdient hätten.


[Anna Zens, wissenschaftliche Volontärin, LVR-LandesMuseum Bonn]


[1] Jochimsen, M./ Zehnder, F. G. (Hg.): Lotte B. Prechner. 1877–1967; Monographie und Werkverzeichnis, Köln 1998.

[2] Bombe, W.: Von neuer Graphik, in: Westdeutsche Wochenschrift, 3,1 (1921), 35–37, zit. nach Jochimsen, M./ Zehnder, F. G. (Hg.): Lotte B. Prechner. 1877–1967; Monographie und Werkverzeichnis, Köln 1998, 138–139.

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